Fragen wir die Kobolde

von Gregor Jansen

Die gewaltigen Malzyklen, an denen Valérie Favre seit über zehn Jahren arbeitet, werden getragen von einem Spannungsfeld, welches, um den ganzen „Potlach“ als Freiheit verheißendes Konglomerat zu kennzeichnen, den Titel „Gesellschaftsspiegel des Spektakels“ tragen könnten. Favres Produktivität ist eine rebellische Aggressivität, ein radikales Denken zwischen ebenjener Spektakelgesellschaft, die Guy Debords posthume Popularität als Erfolg oder als Scheitern offen lässt, und jenem vereinsamten aber genialen Selbstvermittlungsprozess, der jedes verfestigte Bild der bis heute wirksamen „persona“ der neu-sachlichen Ära aus dem Berlin der zwanziger Jahre schnell wieder verflüchtigte. Hedonismus, soziale Eiszeit und Trennungsschmerz. So oder ähnlich sollten wir heute über Debord, über die Maler der 1960er oder 1980er Jahre, aber auch über die Malerin Valérie Favre nachdenken: Menschenbild ist Lebensversuch! Favres Pariser Lehrzeit, sie ist in der Schweiz geboren, könnte sie in dieser Denk- und Arbeitsweise bekräftigt haben; einen richtigen Arbeitsplatz hat sie jedoch in Berlin gefunden, wie sie selber sagt. Als Autodidaktin und feldforschende Medientheoretikerin kommt sie zur Malerei, deren angesprochene Radikalität Nahrung bezieht aus der Spannung zwischen Figuration und Abstraktion, der Auseinandersetzung mit dem ekklektizistischen Verfahren aus dem Schönen, Dekorativen, Gefälligen, Brutalen, Grotesken, Absurden und Hässlichen zu schöpfen. Ihr sprunghaftes Verfahren, die Malweise dauernd und plötzlich zu ändern, erzählt von einer Selbstüberprüfung und zugleich will sie damit unsere Aufmerksamkeit einfordern, ihre Arbeit und Suche immer wieder neu mitzugehen. Jedoch begibt sie sich so in einen eher unbequemen Gegensatz zur Tradition, weil sie nicht flüchtet oder affirmativ mitzieht, sondern bildlich (gesprochen) mit stolpert. Hierin zeigt sich Wahrheit und Wirklichkeit als eine unverfremdete, in ihrer Freiheit durch keine stilistische, farbliche, thematische, letztlich institutionelle Ordnung beschnittene Malerei und Individualität. Der Weg dorthin ist – und man muss sagen leider – hart und gemein. Sie hat dank einiger Figuren und Bildmetaphern Ventile gefunden, bildliche und wörtliche Plattformen in den Bildern als Bühnen oder Bildbühnen. Auf ihnen werden die energetischen Schübe, ihre Kritik, Aggression und zweifelnde Kraft aufgefangen. Es ist eine Malerei ohne Scheuklappen, ohne Angst vor Fehlern und Irrtümern, eine befreiende Malerei, die sich zugesteht, eine Sichtbarkeit des Vergessens zu deuten.

Die Hasenfrauen bevölkern seit 1999 ihre Leinwände und stehen mit den Lapines Univers in einem symbolischen Kosmos. In „Die Antwort der Zwerge“ zeigen sich Gaukler und Variété-Künstler in einer Exponiertheit, in denen linkerhand ihr symbolisches Verzagen neben der subtil- bis naiverotischen Präsenz (la pine ist auch das männliche Glied) kraftvoll aus dem Traum des Surrealismus in die Realität auf der rechten Seite des Bildes herüber scheint. Fast literarisch und bisweilen an Oskar Kokoschka erinnernd, ergriffen von der verzauberten Wirklichkeit der Puppen, tänzeln diese leicht verzückt durch den mystischen Bildraum. Favre scheint neben dem häufig thematisierten (dunklen) Wald hiermit ein figuratives Verbindungsglied zwischen ihrer Schweizer Verwurzelung, den Pariser Seherfahrungen und ihrer deutschen Malweise gefunden zu haben – die an seltsamen Auswüchsen leidende Frau. Wobei leiden in den Konnotationen von erleiden, gut leiden und leid tun verstanden werden kann und soll. Diesmal zitiert sie Debord: „Ich werde nie vergessen, dass er meinte, man solle dem Publikum nichts ersparen“. Ebenso gut lässt sich Antonin Artaud heranziehen, dessen „Theater der Grausamkeit“ allen alles abverlangte. Und gewiss ist auch, dass die Antwort der Zwerge eine Überraschung bereit hält.

Absurde Gesellschaften (oder Einzelpersonen und –tiere) bevölkern Favres Bilder, die durch den Prozess des malerischen Vorgangs individuelle Leinwandcharaktere geworden sind. Aus der Tiefe und Taufe der Bildimagination des Unterbewussten – wie in den Filmen David Lynchs, die aus dieser seltsamen, merkwürdigen Studio-Welt des Kinos als Traumfabrik kommen -, so stammen Favres Gemälde geradezu aus der Studio-Malerei der Anti-Warenästhetik von Gesellschaft und Kunst. Häufig Traumbilder evozierend, erleben wir keinen Anfang oder Ende. Ihr Umgang mit Subjekten, Formen, Brüchen, Wiederholungen, mit einem Intensitäts- und Tempowechsel, mit Verschiebungen auf bildlicher Fläche wie die kafkaeske Verwandlung der Protagonisten und das immer respektvolle, dennoch abgründige Offenlegen einer dunklen Seite in der subjektiven Weltsicht. Der Tod lauert überall. Favre malt das Bild als Schnitt durch die Oberfläche der Dinge und spaltet das Publikum in träumende Liebhaber und realitäts-verschreckte Ablehner. In ihren Bildern haben die Kobolde einen neuen, gruselig-schönen Potlach begonnen – und wir schauen erschrocken fasziniert bei der Inszenierung zu.

mit freundlicher Genehmigung des Autors

Let’s Ask the Kobolds

by Gregor Jansen

The phenomenal painting cycles on which Valérie Favre has been working for over ten years are borne by a provoking realm which, to signify the entire “potlatch” as a conglomerate promising freedom, could well carry the title “societal mirror of spectacle.” Favre’s productivity is a rebellious aggressiveness, a radical reasoning between that very spectacle society that refrains from declaring Guy Debord’s posthumous popularity either a success or failure and that lonely but ingenious process of self-conveyance that quickly volatilized every solidified image of the “persona” (still potent today) of the era of New Objectivity in Berlin of the 1920s. Hedonism, social glaciation, and separation anxiety. Today we should consider Debord, the painters of the 1960s or 1980s, but also the painter Valérie Favre in this (or a similar) way: conception of humanity is an attempt at life! Favre’s apprenticeship period in Paris—she was born in Switzerland—may have reinforced this mindset and working approach of hers; yet a real workplace she has found in Berlin, as she herself notes. As an autodidact and hands-on explorative media theorist, she has arrived at painting, whose inherent radicality is fed by the tension between figuration and abstraction, in order to create the beautiful, the decorative, the facile, the brutal, the grotesque, the absurd, and the ugly through the exploration of eclectic methods. Her erratic technique of perpetually and suddenly changing her way of painting speaks of self-evaluation, and at the same time she is using these means in an attempt to snare our attention, encouraging us to again and again accompany her work and her quest anew. Yet she thereby slips into a (rather uncomfortable) antithesis of tradition since she neither flees nor affirmatively tags along, but rather figuratively (speaking) stumbles along. Here truth and reality manifest as natural painting—the freedom of which is not hampered by any order of style, color, theme, or (finally) institution—and as individuality. The path to this state is—and one must say unfortunately—harsh and cruel. Thanks to several figures and image metaphors, Favre has found outlets, pictorial and textual platforms in the paintings as stages or images carriers. Intercepted upon these is energy-laden impetus, its critique, aggression, and diffident power. It is a way of painting without blinders, without fear of mistakes and errors—a liberating means of painting which does not hesitate to interpret a visibility of forgetting.

Inhabiting her canvases since 1999 are the Hasenfrauen, and they are situated next to Lapine Univers in a symbolic cosmos. In “Die Antwort der Zwerge” there are jugglers and variety-show artists shown in a state of exposure, where from the left their symbolic despair, along with the subtle- to naïve-erotic presence (la pine is also a term for the male penis), forcefully emanates from the dream of surrealism into reality on the right side of the painting. Almost literary and at times reminiscent of Oskar Kokoschka, seized by the enchanted reality of the dolls, they skip slightly entranced through the mystical pictorial space. Favre thus seems to have found—in addition to the frequently thematized (dark) forest—a figurative link between her Swiss roots, her visual experiences in Paris, and her German approach to painting: a woman who suffers from strange excesses. Whereby suffering can and should be understand here in terms of the connotations of the (German) root “leid,” namely, “erleiden” (to suffer), “gut leiden” (to like something), and “leid tun” (to feel sorry). This time she cites Debord: “I will never forget that he meant one should never spare spectators.” And one can just as easily call on Antonin Artaud, whose “Theater of Cruetly” demanded everything from everyone. And it is also certain that the dwarfs’ answer harbors a surprise.

Absurd groupings (or individual persons and animals) inhabit Favre’s paintings; they have become individual canvas characters through the process of painterly mechanisms. From the depths of the pictorial imagination of the subconscious—like in films by David Lynch that originate from that strange, peculiar studio world of cinema as a dream factory—Favre’s paintings virtually spring from the studio painting of anti-commodity aesthetics of society and art. With dream images frequently evoked, we experience neither beginning nor end. Her treatment of subjects, forms, breaches, repetitions, of a change in intensity and tempo, of shifts on pictorial surfaces like the Kafkaesque transformation of the protagonists and the ever-respectful yet inscrutable disclosure of a dark side of the subjective world view. Death is lurking everywhere. Favre paints the picture as a cut through the surface of things, thus dichotomizing the public into dreaming aficionados and reality-avoiding repudiators. In her images, the kobolds have initiated a new, eerie-lovely potlatch—and we are watching the production with alarmed fascination.

with kind permission of the author